Die Alzheimer-Krankheit ist die häufigste Form der Demenz. Die Krankheit beginnt meist unbemerkt und verläuft sehr schleichend. Das Risiko an Alzheimer zu erkranken, steigt mit dem Alter. Die meisten Betroffenen sind älter als 80 Jahre, in seltenen Fällen beginnt die Krankheit schon vor dem 65. Lebensjahr. Ursache für die Erkrankung ist der langsam fortschreitende Untergang von Nervenzellen und Nervenzellkontakten. Dabei kommt es zu Störungen in der Reizweiterleitung, die sich in Gedächtnis- und Orientierungsstörungen, Sprachstörungen, Störungen des Denk- und Urteilsvermögens und Veränderungen der Persönlichkeit äußern. Häufig kommt zu der typischen Verwirrtheit und den Gedächtnislücken, eine Depression, Aggression und/oder Schlafstörung hinzu.
Es gibt noch keine medikamentöse Behandlung, mit der Demenz gestoppt oder geheilt werden kann. Aktuell stehen Antidementiva und Antidepressiva zur Stabilisierung der Hirnfunktion und der Alltagskompetenz zur Verfügung. Meist zeigen diese jedoch nur eine geringe Wirkung und individuell recht unterschiedlich starke Nebenwirkungen. Sowohl bei den Ärztinnen und Ärzten als auch dem Pflegepersonal wird Cannabis zunehmend als mögliche alternative oder begleitende Behandlungsoption bei Demenz bzw. Alzheimer angesehen. Dieser Beitrag erläutert die Rolle des Endocannabinoidsystems (ECS) bei Demenz und stellt aktuelle Studien zum Einsatz von medizinischem Cannabis bei Demenzerkrankten vor.
Rolle des ECS
In den letzten Jahren haben Forscher intensiv die Rolle des ECS bei neurodegenerativen Erkrankungen untersucht. Bei verstorbenen Alzheimer-Patienten wurde anhand immunhistologischer Analysen von Gehirngewebe eine veränderte Aktivität der Endocannabinoid-Rezeptoren und Endocannabinoid-abbauenden Enzyme festgestellt
1. Während das Level an CB1-Rezeptoren signifikant verringert war, war das CB2-Rezeptorlevel im frontalen und para-hippocampalen Cortex der Alzheimer-Patienten deutlich erhöht. Die Forschenden vermuteten zudem, dass dieser Effekt sogar zeitabhängig ist
2. Interessanterweise wurde die erhöhte Aktivität der CB2-Rezeptoren vor allem in den Plaques bzw. den umliegenden Regionen detektiert, wodurch eine Korrelation zwischen dem ECS und der Plaque-Ablagerung nahe liegt, obwohl es keine Abhängigkeit zwischen der
CB1- bzw. CB2-Rezeptor-Aktivität und dem kognitiven Status gibt. Zusammen mit der für Alzheimer-Erkrankung typischen veränderten Enzymaktivität der Lipasen liegt es nahe, dass die Veränderungen im ECS mit der pathologischen Entwicklung der Erkrankung einhergehen
2.
In einer Studie wurde beispielsweise nachgewiesen, dass die Endocannabinoide Anandamid und Noladinether vor Amyloid-β-induziertem Zelltod schützen. Dieser Effekt wird dabei vor allem durch den CB1-Rezeptor und den MAP-Kinase Signalweg vermittelt3. Generell spielen CB1-Rezeptor-vermittelte Signale eine entscheidende Rolle bei der neuroprotektiven Wirkung der (Endo-)Cannabinoide2. Im Gegensatz dazu scheint der CB2-Rezeptor eher als therapeutisches Target für die Alzheimer-Therapie in Frage zu kommen. In präklinischen Studien wurde gezeigt, dass die Neuroprotektion vor allem durch die Blockade der Mikroglia-Aktivierung infolge der CB2-Stimulierung erhöht werden konnte4.
In weiteren Zell- und Tier-basierten Studien konnten zudem die neuroprotektiven Effekte der Cannabinoide bereits gezeigt werden
5. Neben der Beeinflussung von Gliazellen, wirken sie vor allem hemmend auf proinflammatorische Mediatoren und fördern gleichzeitig anti-inflammatorische Substanzen, vermindern oxidativen Stress, verringern die Lipid-Peroxidation sowie den Abbau der Endocannabinoide und schützen möglicherweise vor Exzitotoxizität.
In einer Tierstudie mit älteren Mäusen konnte gezeigt werden, dass
Medizinalcannabis den Alterungsprozess des Gehirns positiv verändern kann
6. Durch eine längere niedrig dosierte Behandlung mit THC wurde das Gehirn in den Zustand von zwei Monate jungen Mäusen zurückversetzt. Bei jungen Mäusen ist das ECS eher überaktiv und wird im Alter herunterreguliert. Die Forschenden schlussfolgerten, dass eine lang-anhaltende, niedrig dosierte THC- oder Cannabisextrakt-Behandlung auch bei älteren Menschen eine Strategie zur Verlangsamung oder möglicherweise Umkehr des kognitiven Verfalls darstellen könnte.
Alles in allem sind die genauen Signal-Mechanismen noch unklar. Nichtsdestotrotz verdichten sich die Indizien, dass ein Ungleichgewicht im ECS und der Endocannabinoid-Homöostase auch im Rahmen der Demenz-Erkrankung eine entscheidende Rolle im Auftreten bzw. Voranschreiten der Erkrankung spielt.
Klinische Studien zum Einsatz von Cannabis bei Demenz-Erkrankten
In einer kleinen Fokusgruppe wurde
Demenz-Erkrankten erfolgreich Cannabis verabreicht, um Unruhezustände, Schlafstörungen und andere problematische Sekundärsymptome wie bspw. Stimmungsschwankungen zu behandeln
7.
Ein weiteres Symptom, welches häufig bei Alzheimer-Patientinnen und -Patienten auftritt ist die Appetitlosigkeit und der damit einhergehende Gewichtsverlust. In einer kleinen, Placebo-kontrollierten Studie wurde die positive Wirkung von Dronabinol auf die Gewichtszunahme der eingeschlossenen Patientinnen und Patienten nachgewiesen8. Zudem kann die häufig beschriebene Begleiterscheinung der Appetitsteigerung bzw. „Hunger-Flashs“ bei Alzheimer-Erkrankten als gewünschte Nebenwirkung genutzt werden.
In einer weiteren Studie wurden 19 Demenz-Patientinnen und Patienten über einen Zeitraum von 13 Monaten mit
THC/CBD (1:2) behandelt
9. Dabei wurde die
Cannabistherapie als sichere, gut verträgliche Therapieoption beschrieben, die zu einer besseren täglichen Versorgung für das Gesundheitspersonal, einer größeren Akzeptanz der Pflegehilfe und leichteren Umsetzung nicht-medikamentöser Maßnahmen und potenziell geringeren Belastung der Pflegekräfte führte.
Fazit
Obwohl die aktuelle Studienlage zum Einsatz von Cannabis bei der Demenz-Erkrankung noch unzureichend ist, gibt es bereits zahlreiche vielversprechende Erfahrungsberichte: Neben der schmerzlindernden Wirkung von medizinischem Cannabis sind es vor allem die positiven Effekte bei Appetitlosigkeit, Angstzuständen und anderen psychischen Begleiterscheinungen sowie Unruhe und Aggression, die eine Cannabistherapie als potenzielle Begleitmedikation bei Alzheimer- bzw. Demenzerkrankten ins Gespräch bringen. So beschreibt der niedergelassene Anästhesist und Schmerztherapeut Christoph Wendelmuth in seiner retrospektiven Kohortenstudie, dass insbesondere geriatrische Patientinnen und Patienten von der anxiolytischen und muskelentspannenden Wirkung von
Dronabinol profitieren
10.
Nichtsdestotrotz ist vor allem bei älteren und dementen Patientinnen und Patienten die kontrollierte Einnahme unter Einhaltung der ärztlich bestimmten
Dosierungen zwingend zu gewährleisten.
Um Auswirkungen auf die kognitiven Fähigkeiten absehen zu können, bedarf es umfassender, Placebo-kontrollierter, doppelblinden und vor allem lang-andauernderen klinischen Studien. Durch diese könnte die vielversprechende Strategie weiterverfolgt werden, bei der durch den Einsatz von Cannabinoiden die Alterungsprozesse des Gehirns verlangsamt und neurodegenerative Symptome gelindert werden.
Quellen
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